Spätestens 1815 war Napoleon geschlagen. Die Briten verbannten ihn auf das kleine Eiland St. Helena im Südatlantik und sorgten dafür, dass es der Exkaiser dort sterbensöde fand.
von Winfried Dolderer
Es war Abneigung auf den ersten Blick. »Das ist kein schöner Ort. Ich wäre besser in Ägypten geblieben«, soll Napoleon Bonaparte geäußert haben, als er von Bord der HMS Northumberland aus das Felseneiland St. Helena auftauchen sah. Es war der 15. Oktober 1815. Die Völkerschlacht bei Leipzig, die den politischen Niedergang des Korsen besiegelt hatte, lag zwei Jahre zurück. Die Niederlage bei Waterloo, der Schlussstrich unter seinen Herrschaftsambitionen, vier Monate. Napoleon war 46 Jahre alt. Lebend sollte er die Insel nicht mehr verlassen.
Es hätte so nicht unbedingt kommen müssen. Nach dem Fiasko des französischen Russlandfeldzugs im Dezember 1812 waren Napoleons Gegner zunächst nicht abgeneigt gewesen, ihm goldene Brücken zur Verständigung zu bauen. Neun Stunden lang hatte Österreichs Staatskanzler Klemens von Metternich (1773–1859) im Juni 1813 in Dresden auf ihn eingeredet. Napoleon sollte Kaiser eines auf die Rheingrenze reduzierten Frankreich bleiben dürfen. Napoleon lehnte ab.
Es folgten die Niederlage bei Leipzig, der Einmarsch der Alliierten in Frankreich, die Absetzung des Kaisers im April 1814. Gleichwohl, noch immer waren die siegreichen Preußen, Russen, Österreicher und Briten darauf bedacht, ihm einen gesichtswahrenden Abgang zu ermöglichen. Napoleon sollte den Kaisertitel behalten und das Inselchen Elba vor der toskanischen Küste als souveränes Fürstentum regieren dürfen. Er hat es dort bekanntlich kein Jahr lang ausgehalten. Der Versuch, in Frankreich erneut die Macht zu ergreifen, endete nach gut drei Monaten in Waterloo, und jetzt sollte es für den gestürzten Imperator nach dem Willen der Sieger kein Comeback mehr geben.
Exil in der Einöde des Südatlantiks
Ihn wunschgemäß in die Vereinigten Staaten ausreisen zu lassen, kam ihnen jedenfalls nicht in den Sinn. Als er in der Nacht zum 15. Juli 1815 das Deck des britischen Kriegsschiffs Bellerophon betrat, das den Atlantikhafen Rochefort blockierte, war der einstige Beherrscher des Kontinents ein Gefangener der Regierung in London. »Europa wird nicht sicher sein, als bis zwischen ihm und diesem Mann der Ozean liegt«, hatte Napoleons korsischer Landsmann und Intimfeind prophezeit, der im Dienst des russischen Zaren tätige Graf Carlo Andrea Pozzo di Borgo (1764–1842). Die Briten taten ihr Bestes, den Wunsch Wirklichkeit werden zu lassen.
Ein abgeschiedenerer Ort als St. Helena war in ihrem ganzen Weltreich kaum zu finden, vereinsamt in der Einöde des Südatlantiks, 1900 Kilometer westlich der afrikanischen, 3300 östlich der brasilianischen Küste. Viel Platz war nicht. Das Inselchen misst in der Länge 17, in der Breite 11 Kilometer. Dazwischen schroffe Felsen und zerklüftetes Gebirge, das sich über 800 Meter hoch auftürmt, Regenfänger für die feuchte Atlantikluft. Das Hauptstädtchen Jamestown erstreckt sich eingezwängt in eine Schlucht mit kahlen, steil ansteigenden Hängen vom Meer aus landeinwärts. Zur Bevölkerung zählten rund 4200 zivile Einwohner und 2500 Militärs, die zu Napoleons Bewachung abkommandiert waren.
Ankunft auf St. Helena | Der Künstler Johann Lorenz Rugendas der Jüngere (1775–1826) schuf eine Bilderserie aus 52 Darstellungen über Napoleon Bonaparte. Hier gab er den Korsen samt Entourage und britischen Bewachern auf seinem Exileiland wieder. Aquatinta, um 1820.
Es sollte kein angenehmer Aufenthalt werden
Diesem war zu allem Überfluss der unwirtlichste, entlegenste Teil des Eilands als Aufenthalt zugewiesen. Longwood House war ein heruntergekommener Landsitz, gelegen auf einem 500 Meter hohen, spärlich bewachsenen, nebelverhangenen und windigen Plateau. Von 20 Räumen waren nur sieben in bewohnbarem Zustand. Die Wände waren aus Lehm und Stroh, das Dach mit Teerpappe gedeckt, unter den Bohlen des Fußbodens moderte das Gebälk, und es wimmelte von Ratten. »Als wir Longwood bezogen, war ihre Zahl so groß, dass sie, wenn wir bei Tische saßen, um die Tafel spazierten, als wären wir gar nicht da«, notierte ein Vertrauter Napoleons.
Dem Exkaiser einen angenehmen Aufenthalt zu bereiten, war erkennbar nicht das vorrangige Anliegen der britischen Administration. Insbesondere galt dies für den seit 1816 amtierenden Inselgouverneur Hudson Lowe (1769–1844). Der Mann war ein penibler Beamter, den die Sorge peinigte, der prominente Gefangene könnte entgegen aller Wahrscheinlichkeit entwischen. Lowe ließ Napoleons Anwesen von Soldaten umstellen, die Anweisung hatten, wenn der Hausherr sich eine Weile nicht im Freien sehen ließ, durch die Fenster zu spähen. In den Gewässern um die Insel kreuzten ständig zwei Kriegsschiffe. Als kränkend empfanden es Napoleon und seine Vertrauten, dass sich die Briten verstockt weigerten, ihn als Kaiser anzureden. Für sie war er »General Bonaparte«, weiter nichts.
Ein kleiner Hofstaat unentwegt Getreuer hatte Napoleon in die Gefangenschaft begleiten dürfen. Zu seinem Gefolge zählten die Generäle Henri-Gatien Bertrand (1773–1844) und Tristan de Montholon (1783–1853) mit Gattinnen, General Gaspard Gourgaud (1783–1852), der Kammerherr und Staatsrat Emmanuel de Las Cases (1766–1842), der Erste Kammerdiener Louis Marchand und als medizinischer Betreuer der Schiffsarzt der Bellerophon, der Ire Barry O'Meara (1786–1836). Mit Madame Montholon hatte Napoleon 1817 noch eine Affäre. Las Cases wurde sein Chronist. Man bemühte sich auf Longwood House, einen Rest kaiserlicher Etikette zu wahren. Zum Abendtisch hatten die Damen in großer Garderobe, die Herren in Uniform zu erscheinen. Nicht alle seine Gefolgsleute hielten es bis zum Schluss bei Napoleon aus. Bereits Ende 1816 verabschiedete sich Las Cases.
Dem skrupellosen Feldherrn gefiel es nicht auf St. Helena
Derweil ließ Bonaparte einen geharnischten Protest nach dem anderen gegen seine Behandlung durch die Briten los, auch in der Hoffnung, die Weltöffentlichkeit und das Parlament in London zu beeindrucken. Er haderte mit der erzwungenen Untätigkeit nicht minder als mit dem Klima. Als Doktor O'Meara ihm empfahl, öfter an die frische Luft zu gehen, erntete er einen Wutausbruch: »Was für Bewegung sollte ich mir (…) machen hier, wo man nicht einen Schritt machen kann, ohne vor Nässe zu triefen, auf dieser Insel (…), auf der man während des größten Teils des Jahres weder Sonne noch Mond sieht? Immer nur Regen und Nebel! Ich hasse Longwood!«
Immerhin verfügte er über eine kleine Bibliothek von 4000 Bänden und Muße, um an seiner Legende zu stricken. »Es ist wahr, wir wollen unsere Memoiren schreiben«, drängte er Las Cases. »Die Arbeit ist die Sichel, mit der man die Zeit schneidet.« In ellenlangen Monologen diktierte Napoleon seine Gedanken über Staat und Politik. Die Nachwelt sollte ihn nicht als brutalen Kriegsherrn im Gedächtnis behalten, der dem schockierten Metternich 1813 in Dresden den Satz entgegengeschleudert hatte: »Ich bin im Felde großgezogen worden, und einen Mann wie mich, den kümmert es einen Dreck, ob eine Million Mann zu Grunde geht.«
Eine neue Armee | Eine Karikatur aus dem Jahr 1815 zeigt Napoleon auf St. Helena. Darunter heißt es: »Macht der Gewohnheit, oder: Der größte Feldherr der Welt besichtigt mit [seinen Generälen] Bertrand und Raton das Festungswerk der Insel St. Helena.«
Aus Napoleons Diktaten in St. Helena entstand jetzt das Bild des Überwinders und Vollenders der Französischen Revolution, des genialen Staatsmannes, der das Licht der Aufklärung und des liberalen Fortschritts über Europa zu verbreiten bestrebt gewesen sei. Noch kurz vor seinem Tod notierte er im Testament für seinen damals zehnjährigen, am Hof des Großvaters Franz I. von Österreich lebenden Sohn: »Ich habe die zu Grunde gehende Revolution gerettet, ich habe sie von ihren Verbrechen reingewaschen, und ruhmleuchtend zeigte ich sie der Welt. Ich habe in Frankreich und Europa neue Gedanken eingepflanzt. Es ist unmöglich, sie wieder zu verdrängen.«
Das Ende des Patienten Bonaparte
Gesundheitlich ging es seit Ende 1817 mit Napoleon bergab. Er klagte über Unterleibsbeschwerden, Wasser in den Beinen, Schlafstörungen, Appetitlosigkeit. O'Meara diagnostizierte eine schwere Hepatitis und wurde prompt nach England zurückversetzt. Gouverneur Lowe hielt Napoleon für einen politisch motivierten Simulanten. Er duldete nicht die geringste Andeutung, der Patient könnte ernsthaft erkrankt sein. Anfang 1819 bestätigte der britische Marinearzt John Stokoe die Diagnose, was seine unehrenhafte Entlassung aus der Navy zur Folge hatte. Begründung: Er habe den »falschen Eindruck« erweckt, »dass der General Bonaparte sich in ernster unmittelbarer Gefahr befinde«.
Ein neuer Arzt, der Korse Francesco Antommarchi (1780–1838), empfahl Gartenarbeit zur Erholung. Im Oktober 1820 raffte sich Napoleon noch einmal zu einem Ausritt auf. Danach schaffte er es nicht mehr aufs Pferd. Im Dezember notierte Montholon: »Seit einigen Tagen kann sein Magen nichts mehr behalten. Er liegt immer im Bett oder auf dem Sofa.« Zuletzt betreute ihn der Brite Archibald Arnott (1772–1855), ein Vertrauensarzt des Gouverneurs, der dessen Sicht auf Napoleons Befinden teilte. »Ich bin überzeugt, wenn morgen ein Linienschiff von England käme, um ihn von hier wegzuholen, würde es ihn heilen«, meinte Arnott im April 1821. Napoleon hatte da noch drei Wochen zu leben.
Napoleons Grab | Im Jahr 1840 ließ die französische Regierung Napoleons sterbliche Überreste nach Paris überführen und feierlich im Invalidendom beisetzen. Zeichnung von Nicolas-Marie-Joseph Chapuy und Adolphe Jean-Baptiste Bayot, Lithografie von Jacques Aubrun, um 1860.
Nachdem er am Abend des 5. Mai einem Krebsleiden erlegen war, das seinen ganzen Magen zerfressen hatte, schuf seine Beisetzung einen letzten Anlass für ein Kräftemessen mit den Inselautoritäten. Die Briten wollten keine Inschrift für »Kaiser« Napoleon auf der Grabplatte sehen. Der Stein blieb leer.
»Ich muss hier sterben, denn hierher wird Frankreich kommen, um mich zu suchen«, hatte Napoleon während seiner Inselgefangenschaft prophezeit und sollte Recht behalten. Unter dem Titel »Mémorial de Sainte Hélène« publizierte Emmanuel de Las Cases 1823 seine Mitschriften der Auslassungen Napoleons in acht Bänden. Sie wurden zur Bibel bonapartistischer Nostalgiker, nicht nur in Frankreich. Die Erinnerung befeuerte rebellische Anwandlungen gegen die herrschenden Regime der Restaurationsepoche.
Auch um solchen Stimmungen entgegenzuwirken, ließ die französische Regierung 1840 Napoleons sterbliche Überreste im Triumph nach Paris überführen und unter der Kuppel des Invalidendoms zur letzten Ruhe betten. Der Mythos wirkte weiter. Seine Schubkraft erwies sich als stark genug, um nach dem Umsturz von 1848 Louis Bonaparte, den Neffen, als Napoleon III. (1808–1873) auf einen erneuerten französischen Kaiserthron zu befördern.